Das Staunen oder warum Wölfe Gleitschirmflieger jagen

Ich wurde von meinen Vorstandskollegen aus aktuellen Unfall-Anlässen am Merkur gebeten, das Thema Sicherheit auf unserer Webseite nochmal nach oben zu ziehen. Bevor der vor längerem veröffentlichte Beitrag zu lesen ist, hier noch einige aktuelle Eindrücke, wie sie mich beim Gleitschirmfliegen immer wieder ins Staunen versetzen und dies jüngst wieder auf so wunderbare Weise getan haben. Eine kleine Geschichte, wie sie (fast) nur das Leben beim Gleitschirmfliegen schreiben kann.

Platon hat mal gesagt, Staunen sei der Anfang der Erkenntnis. Das mit der Erkenntnis ist so eine Sache. Ich nehme aus dem Aphorismus fürs erste nur den Anfang und warte mit der Erkenntnis bis zum Schluss. Und hier die Geschicht’: Es war einmal der 29. August 2019 und ich fahre mit dem Womo um halb vor siebzehn Uhr gemütlich an den Merkur. Vor, über, neben dem Schwarzwald wie vorhergesagt prächtige Gewitterwolkenformationen, die sich auch schon zwischen Rastatt und Baden-Baden ausregnen. Schade, denke ich, aber was solls, endlich wäscht es den Staub von den Solarzellen aufm Dach und die bringen morgen wieder volle Leistung. Überhaupt ist es auch mal entspannt, zu wissen, dass man die nächste(n) Stunde(n) keinen „inneren Startdruck“, kein „Ich könnt was verpassen, was die anderen gerade erleben Gefühl“ haben braucht. Obwohl ich echt schon Bock auf Fliegen habe, denn es war ein in vielerlei Hinsicht äußerst anstrengender Tag. Ich könnte etwas „Abheben“ jetzt gut gebrauchen – aber manchmal kann man halt nix machen und muss die Dinge nehmen wie sie sind.

Die Meute hetzt die Rookies

In der verwegenen Hoffnung auf ein Parkplätzchen mit WLAN nähere ich mich der Talstation – man staunt über die eigene Naivität, es gibt natürlich um die Uhrzeit keine Womo-Lücke – und erlebt schon den nächsten mittleren Moment des Staunens, als einem ein Pilot, der vor wenigen Tagen noch im Baum hing, weil er bei grenzwertigen Bedingungen gestartet ist, und von sich im Nachgang meinte er sei jetzt „geläutert“ und werde in Zukunft vorsichtiger sein, ja man darf darüber staunen, wie dieser offenbar von einer Meute unsichtbarer Schwarzwaldwölfe gejagt, mit gehetztem Blick, kaum sich Zeit für einen Gruß nehmend in die nächste Bahn stürmt. Gut, dass es sie gibt, die Bahn, und er den hungrigen Re-Naturierten offensichtlich Unsaturierten entkommt. Hoffentlich. Man kennt die Wolfsmeute von sich selber, aus den Anfangszeiten des Fliegens. Seltsam, denke ich, dass die Wölfe meisten den Neuen, den Rookies, hinterherhetzen.
Seis drum. Es ist immer wieder spannend, was einem am Merkur so begegnet, was man alles auch nach vielen Jahren erleben darf. Vielleicht wars ja nur ein Geist und mein Bewusstsein hat mir einen Streich gespielt. Das Problem mit den Kreativ-Jobs ist, dass man viel an und zwischen den Grenzen von Sein und Sein-Können arbeitet und manchmal entstehen da Grauzonen.
Jedenfalls mach ich mir erst mal nen Kaffee und wart ab, wie sich die Lage und CBs entwickeln. Hinterm Merkur – mehr über als hinterm, steht ein prächtiges Exemplar, das nächste südlich über Malschbachtal, dann wieder eines nordwestlich bei Gaggenau, im Westen in der Rheinebene parken einige stoisch und regnen ab. Baden-Baden ist umzingelt, hat aber wie so oft Glück und ist bisher trocken geblieben.

Flucht vor dem Airwolf?

Mittlerweile ist es kurz vor 18 Uhr und ich entschließe mich dann doch mal auf den Berg zu fahren und mir das Ganze von oben-unten anzusehen. Kaum an der Bergstation ausgestiegen darf man schon wieder staunen wie ein Neugeborenes, das es nicht fassen kann, was es alles Staunenswertes auf der immer wieder neuen Welt gibt. Drei Piloten tummeln sich munter vor CBs. Hinterm kleinen Staufenberg regnet es prächtig ab. Wohin die Kaltluft wohl fließen mag? Im DHV-Info stand letztens was von bis zu 30 Kilometern Umkreis – aber das gibt’s doch sicher nur in den echten Bergen, hier im Schwarzwald ist alles immer ganz lieb – rote Bommelbollen auf schneewittchenschwarzem Frauenhaar – was man so für Bilder im Kopf hat – Haarmonie. Ommm. Grauzonen halt. Man weiß es nicht und staunt und staunt angesichts des bunten Tuchs vor mächtig prächtiger Kulisse. Das staunende Auge stellt nach einiger Zeit fest, dass einer der Piloten die Ohren anlegt und schnurstracks landen geht. Risikoverweigerer! Spürt der keine Wölfe? „Airwolf“, oh yeah, mit ach wie hieß der Schauspieler nochmal? Zu lange her, egal. Schon wieder Grauzonen im Kopf. Raus da! Zwei andere Piloten fliegen nach einiger Zeit auch gemütlich von der Gewitterwolke weg in Richtung Baden-Baden. Bestaunenswert, diese Gelassenheit. Einer der beiden geht dann doch beschleunigt landen und man denkt, schade, sind jetzt die Wölfe weg? Oder ist da dann noch ein Rest Vernunft im Spiel? Vernunft wird so oft überbewertet, verdirbt sie doch das Drama. Schade, schade.
Doch, was gibt es nicht alles auf der Welt, man darf noch ein weiteres Mal staunen, als der andere Pilot putzmunter und seelenruhig noch einmal zum Merkur zurück, auf CB und Regen zufliegt. Sicher um sich nochmal mit eigenen Augen davon zu überzeugen, dass er das Richtige tut, wenn er dann einige Zeit später doch – möglicherweise restvernunftbegabt? – wieder weg fliegt und landen geht.

Helden reiner Unvernunft

Ich warte noch eine dreiviertel Stunde bis kurz vor 19 Uhr, bis sich die CBs abgebaut haben und lege dann aus. Klar, jetzt hat auch der Wind nachgelassen, es wird kein Stunden-, ja wohl auch kein Halbstundenflug mehr werden. Dafür ist er safe – wie langweilig ich bin, denke ich. Gut, dass andere für Spannung sorgen.
Doch was geschieht nicht alles Unerwartetes, oh Freude meiner Augäpfel, entsteigen da nicht der Bahn beide bestaunenswerten Piloten? Ja, sie sind es, tun es. Meine Helden des Staunens, Kraft der reinen Unvernunft! Dass es heute noch solch Größe gibt! Einer davon – derjenige, der nochmal zum Berg zurückgeflogen ist – hat vor wenigen Wochen den seit Jahren ersten Retterabgang am Merkur vollbracht – auch eine bestaunenswerte Leistung – ob es dafür XC-Punkte geben sollte? Wer weiß, man muss es beim DHV vorschlagen, denke ich.
Angesprochen darauf warum er erstens überhaupt bei dieser Drohkulisse geflogen sei und warum er auch noch an den Berg und auf die CBs zurück und zugeflogen ist, lautet seine umso bestaunenswertere Antwort: „A die waren jo dohinne!“ („Ach, die waren ja dahinten“, Anm. d. A.) Die Welt kann so einfach sein. Schön, dass man beim Fliegen immer wieder so ins Staunen versetzt wird. Einfach nur schön. Ich liebe es.

Und tief in mir drinnen staune ich ein letztes mal, weil ich an die Evolution denken muss, und was sie schon alles vollbracht hat. Und ich wundere mich nur kurz, warum sie so manches zulässt, das so gar keinen Sinn ergeben mag. Da meldet sich die Grauzone und meint, man möge getrost auf die kreative Kraft des Darwin’schen vertrauen. Na dann, erst mal noch nen Kaffee.

Und hier der eigentliche Beitrag zum Thema Sicherheit: https://www.schwarzwaldgeier.de/2018/03/extrem-hohes-risikopotenzial-2018/